Das darf doch nicht VAR sein!

Das darf doch nicht VAR sein!
Foto: photomafia

Zur Saison 2017/2018 wurde der Videobeweis in der Bundesliga eingeführt.
Aber hat er den Fußball auch gerechter gemacht?
Wir beleuchten die Situation rund um die Videoschiedsrichterei und die begleitenden Diskussionen.

Eines der berühmtesten Tore in der Geschichte des internationalen Fußballs wäre mit Unterstützung durch einen Videoschiedsrichter vermutlich nie gegeben worden.
1966 holte England seinen ersten und bis heute auch einzigen Titel mit der Nationalmannschaft der Herren während der WM im eigenen Land durch ein umstrittenes Tor von Geoff Hurst zum 3:2 (Endstand 4:2 n.V.), während des Finalspiels England gegen Deutschland.
Bis heute streiten sich beide Nationen leidenschaftlich um dieses Tor. Mehrere Untersuchungen in all den Jahren kamen mehr oder weniger zu dem Ergebnis, dass das Tor nicht hätte zählen dürfen.
Späte Genugtuung erfuhren die Fans der deutschen Nationalmannschaft dann beim Spiel der Erzrivalen während der WM in Südafrika 2010. Frank Lampard beförderte den Ball, gut nachvollziehbar durch die TV Kameras, über die Torlinie und somit hinter Manuel Neuer, der noch versuchte zu retten was zu retten war.
Doch Schiedsrichter Larrionda aus Urugay bewertete die Situation anders und verweigerte den Three Lions den Treffer zum vermeintlichen 2:2 und England schied in der Folge mit einer 4:1 Niederlage aus dem Turnier aus.
Und so gewann die Diskussion um die technische Unterstützung für die Unparteiischen mehr und mehr an Fahrt.

2013 köpfte Stefan Kießling das Phantomtor für Bayer Leverkusen gegen Hoffenheim. Ein Kunststück welches zuletzt Thomas Helmer 1994 in der Bundesliga gelang, als er im Spiel gegen Nürnberg für Bayern München angeblich ebenfalls ein Tor erzielte, welches aber später vom DFB wieder einkassiert wurde.
Noch größere Aufregung herrschte bei den Borussen aus Dortmund während des DFB-Pokalendspiels 2014.
Wieder war der FC Bayern beteiligt. Mats Hummels traf zur vermeintlichen 1:0 Führung für die Elf aus dem Ruhrgebiet, doch Schiedsrichter Florian Meyer erkannte das Tor nicht an und sah den Ball stattdessen von Bayerns Dante auf der Linie geklärt.
Dortmund verlor das Finale schließlich mit 0:2 nach Verlängerung.
Spätestens jetzt zeigten sich mehr und mehr Clubbosse der neuen Technik aufgeschlossener. Galt es doch, diverse Ungerechtigkeiten und damit verbundene finanzielle Auswirkungen in Grenzen zu halten.
Der Fußball solle gerechter werden, für alle Beteiligten.
Zwei Monate vor dem besagten Pokalfinale hatten die Clubs der ersten sowie zweiten Bundesliga noch mehrheitlich aus Kostengründen gegen die Einführung einer Torlinientechnologie gestimmt, welche bis 2012 von der FIFA verboten war.
Im Dezember des gleichen Jahres wurde dann mit einer Zweidrittelmehrheit der Bundesliga- und Zweitligaclubs dafür gestimmt. Zur Saison 2017/2018 folgte der Torlinientechnik dann schließlich die Einführung des VAR.

Und seitdem es den Videobeweis in der Bundesliga gibt, wird auch darum gestritten.
Es geht um Gerechtigkeit und die Frage, wie genau Fußball denn sein muss und ob sich emotionale Tatsachenentscheidungen mit kalten Fakten am Videogerät vetragen.
Denn sind Entscheidungen im absoluten Millimeterbereich wirklich noch im Sinne des Sports? Und wo zieht man die Grenze?
Vor genau diesen Problemen stehen die Verantwortlichen des VAR, namentlich die Schiedsrichter GmbH des DFB.
Irgendwo muss eine Grenze gezogen werden, auch wenn sie einem noch so absurd kleinlich wie bei diversen Abseitsentscheidungen vorkommen mag.
In anderen Fällen treibt dann eine unterschiedliche Auslegung der Handspielregel in schöner Regelmäßigkeit die Fans auf die Barrikaden.
Beinahe identische Situationen werden von Spieltag zu Spieltag durchaus anders entschieden. Leider nur schwer nachvollziehbar wenn auch häufig theoretisch regelkonform.
Beinahe noch schlimmer wird die Situation für die Verantwortlichen bei dem Umgang mit Fehlentscheidungen.
Didi Hamanns Blutdruck kam so richtig in Wallung, als Schiri-Sprecher Alex Feuerherdt in einer Sky Sendung versuchte die Entscheidung des Schiedsrichters beim Spiel Freiburg gegen Bochum zu erklären, nach welcher Vincenzo Grifo für sein brutales Foulspiel auf dem Platz verbleiben und später einen entscheidenden Elfmeter versenken durfte.
Es kommt selten vor, dass Unbeteiligte sich über eine Entscheidung gegen den VfL Bochum derart echauffieren. Umso erstaunlicher war dann Feuerherdts Erklärungsversuch, basierend auf diversen „Trefferzonen“. Dass diese Version der Rechtfertigung nach hinten losging, sah dann auch der DFB recht schnell ein und ruderte am Folgetag zerknirscht zurück.
Einen ähnlichen Aufreger gab es in der Woche darauf, als Wolfsburg Wimmer von Augsburgs Pedersen ähnlich brutal gefoult wurde und es hier ebenso nur eine gelbe Karte als Konsequenz nach sich zog.
Mit ungleich schwereren Folgen: Wimmer verletzte sich am Syndesmoseband und fiel erst einmal wochenlang aus.
Schiri-Chef Peter Sippel musste sich danach im Sport1 Doppelpass von Stefan Effenberg in den Senkel stellen lassen.
„Das kannst du einem Achtjährigen zeigen, der sieht dass das ein grobes Foul ist“ erwiderte Effenberg auf den Einwand Sippels, dass man ja auch die 26 verschiedenen Kamerawinkel beachten müsse und vielleicht nicht in jeder Perspektive das Foul eindeutig sei.
Ein gewagter Schluss in beiden Situationen.

Aber dies sind nur zwei Szenen von dutzenden, die jedes Wochenende durch die Schiedsrichterteams abgearbeitet werden müssen.
Und hier scheint dann die Technik sowohl Fluch als auch Segen zu sein: Zum einen kann man bis auf wenige Millimeter eine Abseitsposition erkennen. Gleichzeitig sorgen aber die bis zu 26 Kameraeinstellungen auch dafür, dass die Zuschauer eine fehlerfreie Bewertung der restlichen Szenen erwarten. Grundtenor in den Kurven: „Wenn so viel Technik zum Einsatz kommt und dennoch falsch entschieden wird, benötigen wir den ganzen Zirkus dann überhaupt?

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DFB-Schiedsrichtersprecher Alexander Feuerherdt dagegen verteidigt den VAR.
Einer kürzlich vom DFB veröffentlichten Statistik zur Folge hat der VAR bis zum 22. Spieltag 94 mal eingegriffen und lag 88 mal richtig. In jedem dritten Spiel werden somit Fehlentscheidungen verhindert. Die Zahlen bleiben damit saisonübergreifend stabil.
Generell stünden die DFB Schiedsrichter im internationalen Vergleich gut dar. Der Eindruck, dass in der Bundesliga zu viele Fehlentscheidungen getroffen würden, bestätige sich nicht, so Feuerherdt gegenüber der Sportschau. Auf eine 100% Quote werde man nicht kommen. Es seien Menschen am Werk, die Fehler machen und unterschiedlicher Ansichten sein können.
Ein nicht von der Hand zu weisender Einwurf.

Und doch scheint sich der VAR in den Fankurven weiterhin nicht allzu großer Beliebtheit zu erfreuen.
Gerade das Thema Emotionen beim Torerfolg wird dabei häufig als Kritikpunkt genannt.
Es mache einfach keinen Spaß mehr, erst noch eine etwaige Entscheidung des Kölner Kellers abwarten zu müssen. Ein befreiter Torjubel sei so kaum möglich.
So hatten sich in einer repräsentativen Umfrage aus dem Mai 2023 59,7% von 1400 Befragten gar für eine Abschaffung des VAR ausgesprochen. Nur 22,1 % waren der Ansicht, dass die Videotechnik den Fußball überhaupt gerechter machen würde.

Aber wie soll es nun weitergehen?
Beim DFB arbeitet man weiter intensiv daran, die Akzeptanz des Instruments VAR zu steigern.
Feuerherdt betont in der Sportschau, dass die Entscheidungsfindung per VAR im Schnitt 83 Sekunden dauere. „Insgesamt muss man sagen: Es geht schon ziemlich schnell.“
Bei Strafstoß (74 Sekunden) und roter Karte (75 Sekunden) sind sich Schiedsrichter und Kölner Keller demnach schneller einig als bei der Überprüfung von erzielten Toren. Hier dauerte der Check im Durchschnitt gute 99 Sekunden.
Eine Ewigkeit wenn man im Stadion auf den Rängen mitfiebert.
Verbesserungspotential gäbe es bei zum Beispiel bei der halbautomatischen Abseitsentscheidung, wie sie schon der WM in Katar bereits zum Einsatz kam.
Hier müssten sich aber die Clubs aktiv dafür aussprechen und diese Technik auch bezahlen, so Feuerherdt.
Eine Einführung so genannter Challenges, wie sie zum Beispiel aus dem American Football bekannt sind, sei übrigens keine Option.
Laut DFB hätten die Regelhüter des IFAB (International Football Association Board) dies schon zu Beginn der zweijährigen Testphase des VAR 2015 nicht zugelassen.
Grund sei hier ein zu erwartender immenser Zeitverlust gewesen, wenn die Teams 2 oder mehr Möglichkeiten zur Anfechtung von Schiedsrichterentscheidungen bekommen hätten, so wie es beispielsweise in der NFL üblich ist.

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Es bleibt abzuwarten, ob sich Fans, Spieler und Schiedsrichter irgendwann richtig an den VAR und die ihn begleitenden Diskussionen gewöhnen werden.
Über Regelverstöße und Schiedsrichterentscheidungen ist schon immer diskutiert worden. Das wird sich in Zukunft auch nicht ändern und gehört ein gutes Stück weit auch zum Fußball.
Der DFB und die Schiedsrichter müssen nur dringend einen Weg finden, vergleichbare Situationen auch vergleichbar und nachvollziehbar zu entscheiden.
Derzeit überwiegt oft das Gefühl, dass es nicht transparent genug ist wann der VAR eingreift und wann nicht.
Auch nach dem vergangenen Spiel gegen den SC Freiburg schlugen in der Bochumer Anhängerschaft diesbezüglich die Wellen wieder hoch. Hatte man doch bereits beim Auswärtsspiel in Mönchengladbach das Gefühl, dass bei weitem nicht alle Szenen wirklich fair bewertet worden sind.

Und so wird uns voraussichtlich auch noch in Zukunft jedes Wochenende die schier endlose Diskussion über vermeintliche Fehlentscheidungen der Schiedsrichter verfolgen. Trotz aller Technik. Häufig zu Unrecht, aber leider auch häufig genug zu Recht.
Ob Imagekampagnen seitens des DFB wie Schiedsrichter-Dokus in der ARD Mediathek oder die Schiri-Cam im Headset daran etwas entscheidend ändern werden, wird man sehen.


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